Der elfte Tag auf See, der neunte Tag in SAR-AREA
Kurs: Westen, Wellen, Wind
7:00
Wir driften nicht mehr, sondern fahren zügig Richtung Westen. Die See ist recht ruhig.
Auf der Brücke erfahren wir, dass das Maritime Rescue Coordination Center MRCC uns empfohlen hat, Richtung Westen zu fahren. Es wird von drei Schlauchbooten im Westen gesprochen. Die Zahl der Boote steigt schnell.
8:30
Wir erfahren, dass sich zwei Boote östlich von Tripolis auf dem Weg in die internationalen Gewässer befinden. Wir ändern den Kurs und fahren wieder ostwärts. Für die 30 Meilen werden wir an die drei Stunden brauchen. Kapitän Alex ruft im Maschinenraum an: „Power to the engine.“ Wir fahren mit einer Geschwindigkeit von 10 Knoten.
Vom MRCC erhält jeder Rescue-Einsatz eine Nummer: Unser lautet: Case Number 662. Dies ist also die 662. Rettung in diesem Jahr.
Das MRCC gibt uns die Positionsdaten durch unter Angabe der Zahle der Boote.
Sie befinden sich auf einer der gefährlichsten Flüchtlingsrouten weltweit. Während der Flüchtlingszustrom über die Balkanroute aufgrund des Abkommens der EU mit der Türkei zurückgegangen ist, versuchen umso mehr Migranten über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen.
9:30
Es gibt bereits mindestens drei weitere Einsätze. Die Bourbon Argos, die Dignity und Sea-Watch 2, alles zivile Rettungsschiffe, liegen alle nah bei einander im Westen. Mittlerweile sind wir jetzt wieder so weit östlich wie am frühen Morgen.
Am Horizont kann man die Silhouette eines Bootes erkennen. Als wir näher kommen, sehen wir, dass es ein Fischerboot ist.
Wir werden noch etwa anderthalb Stunden brauchen, um das Schlauchboot zu erreichen.
10:00
Letzte Absprachen vor dem Einsatz erfolgen mit dem SAR- und MSF-Team sowie mit dem Kapitän.
10:30
Ein Helikopter fliegt über den Horizont und über das Fischerboot.
10:45
Die Rettungsboote werden vorbereitet. Der Kran in Position gebracht und Boot 1 befestigt. Das Schlauchboot der Aquarius wird für alle Fälle noch etwas aufgepumpt. Es dient als Reserve.
Diese Diashow benötigt JavaScript.
11:30
Alle stehen in Startposition bereit.
Am Horizont ist ein großes Marineschiff zu sehen. Der Helikopter ist ebenfalls unterwegs.
Östlich haben wir unsere Position erreicht. Wir wenden und fahren Richtung Süden auf die Position des Schlauchbootes zu. Weitere Informationen zwischen dem MRCC und der Aquarius werden ausgetauscht.
Boot 2 wird vorbereitet.
11:40
Zwischen dem Militärschiff und unserem Schiff ist jetzt am Horizont ein auf- und abhüpfendes Etwas zu sehen. Wir fahren direkt darauf zu. Beim Näherkommen sieht man, dass es ein vollbesetztes Schlauchboot ist. Es dauert noch längere Zeit, es zu erreichen. Währenddessen sind langsam Einzelheiten zu erkennen. Man beobachtet und wartet. Das Boot hüpft weiter stark auf und ab. Wir sind noch ungefähr vier Meilen entfernt.
12:00
Das Flüchtlingsboot ist gut zu sehen. Mittlerweile kann man die einzelnen Menschen erkennen. Das Boot ist völlig überfüllt und die Menschen sitzen in Reihen bis auf die Seiten des Bootes gedrängt.
Wir stoppen ungefähr 400 Meter entfernt und Boot 1 wird zu Wasser gelassen, es lädt die großen Taschen mit den Rettungswesten und fährt zu den Schiffbrüchigen. Der Cultural Mediator und die Ärztin geben per Megaphon Anweisungen. „Bitte Ruhe bewahren “ Alle müssen sitzen bleiben. Boot 2 – ebenfalls mit Rettungswesten ausgestattet – nähert sich. Die Westen werden verteilt. Dann werden die Flüchtlinge in kleinen Gruppen von Boot 1 an Bord gebracht. Es fährt wie ein Shuttle hin und her. Der Kapitän steuert die Aquarius währenddessen so, dass sie einen Wind- und Wellenschutz bietet.
Zuerst kommen die Frauen, Kinder und Verletzte. „Bonjour, Bienvenue, ca va? Gardez la bouteille!“ Sie alle erhalten ihr Rescue-Kit, indem auch eine Flasche Wasser ist. Die Frauen weinen alle. Sie werden mit ihren Kindern und einem unbegleiteten 10jährigen Jungen im Shelter-Room untergebracht.
Nun kommen die Männer die Treppe des Bootsanlegers hoch. Sie werden begrüßt und ebenfalls mit ihrem Paket versorgt. Einige sind vollkommen erschöpft, manche wirken benommen, andere können nicht sprechen vor Durst. Einige müssen sich erst einmal setzen oder auf den Boden legen. Manche frieren. Ein 15jähriger Junge ist am Fuß verletzt und kann kaum gehen. Andere lachen vor Freude, dass sie gerettet sind. „Merci. Bonjour! Merci, Madame“ Viele tragen zerfetzte Kleidung, manche haben nur noch Unterwäsche und T-Shirt an. Fast alle sind barfuß. Nachdem sie ihre Nationalität und ihr Alter angegeben haben, können sie sich endlich achtern auf dem hinteren Teil des Hauptdecks ausruhen. Einige haben schon Hunger. In ihren Versorgungspaketen finden sie auch etwas zu essen.
Auch die Frauen erlangen nach einer Dusche und nachdem sie wissen, dass sie hier in Sicherheit sind, ihre Fassung zurück.
Das bedeutet nicht, das die Geretteten nicht furchtbare Strapazen – körperlich wie seelisch – ausgesetzt waren.
Zu guter Letzt wird das Schlauchboot vom SAR-Team zerstört. Es dümpelt noch eine Weile mit aufgeschlitzten Luftkammern am Heck der Aquarius vorbei, bevor es versinkt.
14.30
Die Rettungsboote sind wieder an Platz und Stelle. Der Einsatz hat gut funktioniert, obwohl die Wellen schon recht hoch waren. Das SAR-Team hat gute Arbeit geleistet. Mit der Übergabe an Bord hat das MSF-Team eine kurze Erstdiagnose der Menschen durchgeführt und betreut sie weiterhin.
Diese Diashow benötigt JavaScript.
Es sind 132 Gerettete. Davon 14 Frauen und 31 Minderjährige, von denen wiederum 27 unbegleitet unterwegs sind. Zwie Jungen der unbegleiteten Jungen sind erst 10 bzw. 15 Jahre alt. Sie kommen unter anderem aus Mali, Guinea-Conakry, Elfenbeinküste, Eritrea und Südsudan.
Einige erzählen, dass sie um 1:30 Uhr in der Nacht von Schleusern an den Strand gebracht worden sind. Sie sprechen von bis zu 1.000 Leuten.
Das Marineschiff hatte ebenfalls einen Rettungseinsatz. Mindestens ein weiteres Boot wird noch gesucht.
Sämtliche zivilen Rettungsschiffe in der SAR-AREA sind im Einsatz. Alle sind voll ausgelastet.
Wir folgen dem Marineschiff, dass noch nach dem vermissten Boot sucht. Möglicherweise sollen alle Geretteten mit unserem Schiff nach Italien gebracht werden. Das können über 500 Menschen werden. Es wird weiterer Platz an Deck für die Flüchtlinge eingerichtet. Zur Zeit wissen wir noch nicht, wohin genau die Schiffbrüchigen gebracht werden sollen. MRCC wird anweisen, welchen Hafen wir ansteuern werden.
15:00
Für das SAR-Team kehrt erst einmal Ruhe ein. Sie können essen und sich ein wenig ausruhen. Dann müssen sie die Boote und das Deck in Ordnung bringen.
17:00
Die Brücke erhält neue Informationen vom MRCC. Es wird eine weitere Position eines Schlauchbootes durchgegeben. Es ist 3-4 Stunden entfernt. Wir wenden und fahren mit einer Geschwindigkeit von 10 Knoten in die angegebene Richtung. Wenn wir schnell sind, können wir es vielleicht noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.
Die Fallnummer lautet 674.
Mittlerweile wird von 27 Schlauchbooten gesprochen, die heute von der Küste gestartet sind.
Die Zahl der Schiffbrüchigen ist auf 4.000 gestiegen.
20:00
Das dritte Boot ist immer noch nicht gefunden worden. Die Wellen sind stärker geworden.
Für eine Suche in der Nacht ist die Aquarius nicht optimal ausgerüstet. Trotzdem wird auch nach Einbruch der Dunkelheit weiter gesucht.
22:00
Noch immer ist unklar, ob wir die Schiffbrüchigen, die die Marine gerettet hat, ebenfalls aufnehmen. Wir versuchen weiterhin das dritte Boot zu finden. Es gibt standardisierte Suchmuster, nach denen sich der Kurs richtet.
23:00
Die Schiffscrew und das SAR-Team geben die Suche nicht auf. Ein Signal taucht immer kurz auf dem Radar auf und verschwindet wieder. Es könnte das Boot sein. Mit zwei Suchscheinwerfern wird das stockdunkle Meer auf beiden Seiten abgesucht. In den Lichtkegeln wird mit Hilfe von Ferngläsern Ausschau gehalten. Ein Vogel löst falschen Alarm aus.
23:30
Dann wird das Boot tatsächlich gesichtet. Das grenzt schon fast an ein Wunder. Das angeleuchtete Boot erscheint weiß in der dunklen See. Der abnehmende Mond steht hoch über dieser fast surreal anmutenden Szene. Die Flüchtlinge werden direkt vom Schiff über Megaphon angesprochen. Es wird ihnen gesagt, dass wir nicht die Polizei sind. Das wir Europäer sind und sie nach Europa bringen. Dann beginnt das Procedere des Rettungseinsatzes: Boote zu Wasser lassen und alle nach und nach an Bord bringen. In der Nacht ist die Rettung gefährlicher. Die Boote werden während des gesamten Einsatzes mit dem Suchscheinwerfer beleuchtet.
2:00
125 weitere Menschen werden an Bord genommen, darunter 7 Kinder, 20 Frauen und viele Minderjährige.
Jetzt steht fest, dass wir zusätzlich von der Marine 395 Gerettete übernehmen werden. Das Marineschiff ist jetzt noch ungefähr 30 Meilen entfernt. Beide Schiffe fahren aufeinander zu und wir werden uns in circa anderthalb Stunden treffen.
Der Zielhafen soll ungefähr zwei Tage entfernt sein. Aber noch hat uns das MRCC nicht mitgeteilt, welchen Hafen genau wir anfahren sollen. Wir werden also zwei Tage mit über 650 Flüchtlingen unterwegs sein. Das bedeutet, überall vom Bug bis achtern auf verschiedenen Decks werden wir sie unterbringen müssen. Hoffentlich wird es nicht regnen. Zudem gibt es nur wenige Toiletten.
3:15
Aus der Dunkelheit tauchen die Lichter des italienischen Kriegsschiffs auf. Schemenhaft können wir erkennen, dass das gesamte Hubschrauberdeck voller Menschen ist.
3:30
Der Transfer beginnt und dauert bis 10:00 Uhr am folgendem Freitag. Es wird voll auf der Aquarius. Es ist kaum ein freies Stück Deck mehr zu sehen.
10:30
Unser Zielhafen ist Messina auf Sizilien. Die Aquarius ist schon mit voller Geschwindigkeit auf dem Weg nach Italien. Am Sonntagmorgen werden wir unser Ziel erreichen.
Die Zahl der Rettungseinsätze am Donnerstag, den 23. Juni 2016, ist auf 40 gestiegen; die Zahl der Geretteten steigt auf bis zu 5.000. Das alles ist den deutschen Medien nicht viel mehr als eine Randnotiz wert.